Wer immer schon einmal wissen wollte, wie eine Lesereise abläuft und was so hinter den Kulissen passiert: bitte sehr. Ich habe da mal ein wenig Tagebuch geführt.
Sonntag, 10. September 2017
Der Wochenendbesuch ist wie geplant wieder abgefahren, es bleiben noch etwa drei Stunden, um den Koffer fertig zu packen. Fünf Tage Lesereise durch Nordsachsens Schulen mit HIV-Prävention liegen vor mir, 14 Veranstaltungen an fünf Orten in fünf Tagen plus »Lange Nacht der Printmedien« direkt im Anschluss in Berlin. Ich packe wie immer viel zu viel ein, der Koffer wiegt gefühlte fünfzig Kilo. Ich könnte mich ja bekleckern, also muss alles doppelt und dreifach mit. Ich unternehme solche Reisen seit sieben Jahren – muss ich extra erwähnen, dass ich mich noch nie bekleckert habe? Aber wer weiß das schon …
Der Koffer wird zwei Etagen nach unten gewuchtet, die Rollen klackern über den Bürgersteig wie sonst nur bei Touristen. U-Bahn (Aufzug), S-Bahn (Rolltreppe): Ankunft am Berliner Hauptbahnhof. Zeit genug, um nach unten zu stromern, ins nord-südliche Tiefgeschoss. Der ICE ist pünktlich, auch wenn die Wagen in umgekehrter Reihenfolge zusammengekuppelt sind. Der reservierte Platz ist erstaunlicherweise frei, für eine Stunde geht die Fahrt Richtung Süden. Kurz vor der Ankunft in Bitterfeld, ich habe den kürzesten Weg zum nächsten Ausstieg gewählt, meldet sich die Verdauung. Ich hätte zuhause doch … hab ich aber nicht. Die freundliche Zugbegleiterin macht mich darauf aufmerksam, dass die Tür, an der ich stehe, nicht geöffnet werden wird: Der Bahnsteig ist zu kurz. Das ist wohl das »Bitter-« an »-feld«.
Ich ziehe den Koffer, der nur wenige Zentimeter schmaler ist als der Gang, ohne Kollateralschäden zur nächstvorderen Tür. Die Verdauung meldet sich in immer kürzeren Abständen. Der Zug hält, ich steige aus. Sieben Minuten Aufenthalt bis zum Anschlusszug und weitere acht Minuten Fahrt nach Delitzsch. Und dann noch zehn Minuten zum Hotel. Wird nicht reichen. Ich beschließe, mein WC-Glück im Bahnhof zu suchen. Dankenswerterweise funktionieren alle Aufzüge. Und tatsächlich: Im Bahnhof gibt es einen Back-Shop mit WC. Benutzung für Gäste kostenlos, für alle anderen 50 Cent. Ich habe keine Zeit, Gast zu werden, und auch kein Kleingeld. Die freundliche Dame an der Theke leiht mir die nötige Münze. Also hinein! Aber Halt: Es mangelt an Papier. Das Damenörtchen ist ebenfalls offen, die Papierrolle wohl gefüllt. In höchster Not nehme ich den ganzen Vorrat und verziehe mich, Koffer und Rucksack in der kleinen Kabine verstauend, auf die Brille. Keine Sekunde zu früh.
Als ich fertig bin, möchte ich meine Schulden begleichen, habe aber nur einen Fünfzig-Euro-Schein. Die eben noch so freundliche Verkäuferin runzelt die Stirn, und ich kaufe aus Verlegenheit ein halbes Schinkenbrötchen vom Vormittag. Ob es Koch- oder Rohschinken ist, lässt sich nicht mehr mit Bestimmtheit sagen – dafür kostet es nur 40 Cent. Fleißig kauend trete ich den Rückweg zum Bahnsteig an. In zwanzig Minuten kommt der Regionalexpress nach Leipzig. Ich setze mich auf das Metallbänkchen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. So bitter ist es hier gar nicht.
Für acht Minuten Reisezeit kann ich im Regionalexpress einen Stehplatz ergattern. Am Ziel angekommen nehme ich den vertrauten Weg die Eilenburger Straße hinunter zum Hotel »Grüne Linde«. Die Besitzerin will mir, der ich mittlerweile zum fünften Mal zu Gast bin, Gutes tun und hat mir das schönste Zimmer reserviert. Im zweiten Stock – natürlich ohne Aufzug. Leichter ist der Koffer nicht geworden. Ächzend erreiche ich Zimmer 21, stelle alles ab und lasse mich aufs Bett fallen.
Dreißig Minuten später bekomme ich Hunger. Leider hat das Hotel die Gastronomie aufgegeben, aber es gibt die Empfehlung, ein italienisches Restaurant in der Nähe aufzusuchen. Betriebsurlaub. Alle anderen Restaurants haben sonntags Ruhetag. Alle? Nein, ein kleiner Asia-Imbiss hat geöffnet. Mit Erstaunen sehe ich, dass es nicht nur ein Imbiss ist, sondern ein ausgewachsenes Restaurant im ersten Stock. Ich erklimme die Stufen zu den fernköstlichen Östlichkeiten, lasse mir einen Tisch zuweisen und bestelle ein Hefeweizen. Der asiatische Kellner bringt es mit einem Lächeln, aber nicht diesem asiatisch-servilen Lächeln, das man in Deutschland zu erwarten scheint, sondern einem breiten, offenen, strahlenden Lächeln. Er ist jung und mindestens 1, 85 Meter groß. Ein Asiate! 1,85 m! Ich lächele zurück, bestelle die Nummer 40, bekomme das beste Chicken Chop Suey, das ich seit Langem gegessen habe, und beschließe, am nächsten Abend wieder dort zu essen – und natürlich zu lächeln. Geht nicht. Ruhetag. Delitzsch macht es mir nicht einfach. Ich komme rechtzeitig zum »Tatort« wieder ins Hotel: Stuttgart steht im Stau. Ich habe ein breites Bett für mich alleine.
Montag, 11. September 2017
Seit sieben Jahren toure ich nun mit HIV-Präventionsveranstaltungen an Hand meines Buches »Endlich mal was Positives« durch die Lande, aber heute habe ich Premiere: Die erste Veranstaltung beginnt erst um 10:20 Uhr … und damit zweieinhalb Stunden später als sonst üblich. Ich habe Zeit für ein ausgedehntes Frühstück, obwohl ich vergleichsweise lange geschlafen habe. Präsenile Bettflucht? Ha! Heute nicht.
Im Beruflichen Schulzentrum Delitzsch erwarten mich zwei fünfundvierzigminütige und eine neunzigminütige Veranstaltung. Die kürzeren sind für Schüler der berufsvorbereitenden Stufe, die längere für Gymnasiasten. Die Schüler der zweiten kürzeren Veranstaltung haben meistenteils Migrationshintergrund bzw. sind Flüchtlinge aus arabischen Ländern und Afghanistan und besitzen bereits recht ordentliche Deutschkenntnisse. Was mich besonders überrascht: Ein syrischer und ein afghanischer Schüler sprechen freimütig über den Umgang mit Sexualität, Homosexualität und HIV in ihren Heimatländern – zumindest soweit sie es mitbekommen haben. Die kulturellen Unterschiede zu Mitteleuropa sind klar zu erkennen, aber es ist ebenso deutlich, dass die 16/17-jährigen jungen Männer »eager to learn« sind, also wissen möchten, wie man hierzulande mit diesen Themen umgeht. Sie unterscheiden sich in keiner Weise von ihren deutschen Altersgenossen; sie giggeln und grinsen aus derselben Verlegenheit an genau denselben Stellen.
Der Nachmittag ist der Entspannung gewidmet, doch bevor es soweit kommt, muss ich mich im Hotel in eine politische Diskussion verwickeln lassen. Mein Gesprächspartner gibt freimütig zu, bei der anstehenden Bundestagswahl die AfD wählen zu wollen, aber er liefert eine überraschende Begründung: Er wähle die Partei, um sie scheitern sehen zu können. Irgendwie fühle ich mich an den Brexit erinnert, aber ich möchte die Diskussion nicht weiter befeuern. Ich möchte meine Schuhe ausziehen und mich aufs Ohr hauen. Endlich zeigt mein Gegenüber Verständnis für meine Wünsche, und ich darf mich in den zweiten Stock verabschieden.
Zwei Stunden später verspüre ich Hunger. Montags ist halb Delitzsch zumindest gastronomisch geschlossen, aber wenigstens die »Schlosswache« hat offen.
Nach einem gemütlichen Spaziergang durch die wunderschöne Altstadt von Delitzsch – natürlich mit einem Abstecher um das Barockschloss herum – widme ich mich der Nahrungsaufnahme. Der junge, überaus freundliche und höfliche Kellner, schätzungsweise drittes Lehrjahr, bringt mir das bestellte Hefeweizen (»hell oder dunkel?«) und ein wunderbares Schnitzel. Gesättigt trete ich den Heimweg an und verziehe mich aufs Hotelzimmer. Wenn ich richtig gerechnet habe, ist morgen früh um zwanzig nach sechs die Nacht ‘rum.
Dienstag, 12. September 2017
Die Nacht ist bereits um zehn vor sechs um, freiwillig und ohne Wecker. Nach einem Happen Morgenmagazin geht’s unter die Dusche – kurz darauf sitze ich beim Frühstück. Zwei Stunden früher als gestern, aber trotzdem habe ich fast genauso viel Zeit zum Genuss. Immerhin. Bevor es ins Gymnasium Delitzsch geht, muss ich noch den Koffer packen – und vor allem: schließen. Es knackt gewaltig, und ich hoffe sehr, dass es nicht das Tablet sein möge, auf dem ich hier meine Erinnerungen notiere. Das werde ich aber erst am Nachmittag wissen. Der Koffer wird zwei Etagen heruntergewuchtet und in den Kofferraum des mich abholenden Wagens expediert. Von mir. Gibt Muckis.
Veranstaltung eins: 105 erstaunlich ruhige Zehntklässler. Letztes Jahr war es unruhiger, aber da war – und das soll kein Heinz Erhardt-Schnack sein – die Bühne auch andersherum. Vielleicht ist an Feng-Shui doch was dran? Die neunzig Minuten vergehen wie im Flug, die neue Beratungslehrerin und die neue Sozialarbeiterin sind sehr angetan. Ich darf wiederkommen. Das freut mich. Nach einem Kaffee müssen wir allerdings weiter ins Rittergut Schenkenberg, das im 16. Jahrhundert errichtet wurde und heute eine Bildungseinrichtung beherbergt.
Zwei Veranstaltungen mit Altenpflegeauszubildenden verschiedener Altersgruppen erwarten mich. Eine Herausforderung, denn hier muss ich anders gewichten. HIV als Thema in der Pflege ist etwas Anderes als eine generelle Aufklärung und Prävention. Die Ausbilder, die zum Teil jünger sind als ihre »Eleven«, sind zufrieden. Es stellt sich heraus, dass selbst in Pflegeeinrichtungen ein großer Bedarf an Aufklärung jenseits eines klassischen Seminars besteht. Wieder einmal ist meine Authentizität ein großes Plus. Man will mir einen Kontakt vermitteln. Schaun wir mal. Wäre toll.
Weiterfahrt nach Schkeuditz, wo am Mittwoch die nächsten Veranstaltungen sein werden. Aber erst einmal ins Hotel. »IBIS styles Leipzig«. Ein patziger Mitarbeiter am Empfang, das Haus nicht barrierefrei, schlechtes WLAN und Baulärm nach 18 Uhr. Um vom Aufzug aus zum Zimmer 203 zu kommen, das rechts liegt, muss man nach links und von Zimmer 247 runterzählen, bis man vor der Tür steht. Einmal um den Pudding, wie man in Bremen sagen würde. Hier nennen sie das bestimmt anders. Sonderpreise gibt es übrigens nicht, immerhin ist in Leipzig gerade Schuhmesse. Die erste Amtshandlung auf dem Zimmer: im Koffer nachsehen, was so verdächtig geknackt haben könnte. Das Tablet ist es nicht. Glück gehabt.
Der erste Eindruck vom hiesigen IBIS zwingt mich zu einer Strafaktion. Ich gehe zum Essen nicht ins hoteleigene Restaurant, sondern »Zum Landfleischer«, einem gutbürgerlichen Restaurant mit eigener Schlachtung und Verkauf, laut Google Maps nur wenige Minuten entfernt, gemütlich, zwanglos und für Gruppen geeignet. Für Vegetarier wohl eher nicht. Aber das bin ich ja eh nicht …
Angekommen. Entfernung stimmt. Draußen gibt’s mehr Plätze als drinnen. Ist aber zu kalt. Drinnen sind alle Tische okkupiert, nur zwei sind frei. Kunststück: beide reserviert. An einem größeren Tisch sitzt ein Ehepaar. Ich frage höflich und darf Platz nehmen. Wir kommen ins Gespräch. Überraschung eins: Sie ist freie Dozentin an der Ritterburg Schenkenberg – und wir waren heute zur selben Zeit dort, wenn auch durch zwei Stockwerke getrennt. Überraschung zwei: Das einzige Medikament, das er nimmt, ist Bullrich-Salz. (Für Nicht-Insider: Mein erstes Buch behandelte die Geschichte des ältesten deutschen Fertigarzneimittels, die ersten 180 Jahre der Marke von 1827 bis 2007). Sage noch einer, es gebe keine Zufälle! Wenn der Leibniz-Keks nur echt mit 52 Zähnen ist, dann ist das Jahr nur echt mit 52 Wochen.
Nach zwei Hefeweizen und einer Portion Berliner Leber trete ich den Heimweg an. Wenn ich das richtig verstanden habe – und ich befürchte, dass ich es richtig verstanden habe – wird die Nacht heute noch kürzer sein als gestern. Ich plane das Frühstück für 6:00 Uhr ein. Zum Glück hat der Frühstücksraum dann schon geöffnet. Gute Nacht!
Mittwoch, 13. September 2017
Wenigstens das Bett hat für die erlittene Unbill entschädigt. Obwohl der Wecker zu einer unchristlichen Zeit seinen Senf zum Tage dazugibt, fühle ich mich ausgeschlafen. Morgenmagazin, Dusche, Frühstück. Um zehn vor sieben werde ich abgeholt, es geht zum Gymnasium Schkeuditz. Ein herzlicher Empfang durch die zuständige Lehrerin ist mir sicher, ich bin zum vierten Male dort. Im ersten Durchgang sind’s die zehnten, im zweiten Durchgang die neunten Klassen. Nächstes Jahr wird die Schule pausieren, der Lehrerin gehen die Schüler aus. Aber in zwei Jahren soll ich wiederkommen. Wer weiß, vielleicht habe ich dann aber schon wegen Reichtums geschlossen …
Um elf Uhr geht’s weiter nach Eilenburg. Das ist das Schöne an diesen Lesereisen: Man kommt in Orte, von deren Existenz man zuvor kaum etwas ahnte. Aber es ist nicht einfach Eilenburg, es ist ein Berufsschulzentrum außerhalb, mitten im Wald, fernab der Zivilisation. Naja, nicht ganz – immerhin fährt ein Bus bis vor die Tür. Aber der Name ist zauberhaft: Rote Jahne. Der Legende nach soll es sich dabei in grauer Vorzeit um eine rothaarige Dame gehandelt haben … sofort assoziiere ich Hexen, Hänsel und Gretel und die ganze Familie Grimm. Die sind aber nicht bei der Lesung. Der Kurs besteht aus Heilerziehern und Erzieherhelfern. Also wieder mal ein etwas anderer Schwerpunkt. Abwechslung macht Spaß und würzt den Tag.
Rückweg zum Bahnhof und Weiterfahrt nach Oschatz. Der Fahrkartenautomat spuckt zwar Fahrtmöglichkeiten aus, aber leider kein Ticket. Er besteht auch auf völlig anderen Verbindungen als mir das Internet vorschlägt. Also muss ich mit dem Bus nach Wurzen und von dort aus mit dem Regionalexpress nach Oschatz. Leider hat der Bus fünf Minuten Verspätung, der Zug ist seit zwei Minuten weg und ich muss 58 Minuten auf den nächsten warten. Während ich gedankenverloren auf eine hässliche Lärmschutzwand starre, geht mir der Ortsname nicht aus dem Sinn. Ich hätte »Wurzen« ja für ein Verb gehalten: ich wurze, du wurzt, er wurzt. Tatsächlich ist es aber die Stadt, in der Joachim geringelnatzt hat. Nuts hat’s – das kennen wir doch aus der alten Werbung! Endlich kommt der Zug, und zwei reizende alte Damen entpuppen sich als Zugbegleiterinnen. Auf meinem angeblich auch hier gültigen Busticket steht »Netz«, was die eine der beiden zu irritieren scheint: »Was heißt denn Netz?«, fragt sie ihre Kollegin. Ich souffliere lächelnd: »Es bedeutet, dass ich Ihnen ins Netz gegangen bin!« Es folgt eine angemessene Heiterkeit und der Zangenabdruck auf dem Ticket.
In Oschatz angekommen, muss mich nur noch der Stadtbus bis zum Friedhof bringen, oder besser gesagt: zur gleichnamigen Haltestelle. Dieser Stadtbus ist übrigens ein rollendes Kaffeekränzchen. Man kennt sich, tratscht miteinander, tauscht Einkaufstipps und Neuigkeiten aus – nur mir, dem Besucher, bleibt dialekthalber fremd, worüber sich die Eingeborenen unterhalten. Dafür stelle ich aber fest, der der homo oschatziensis offensichtlich Vorbild für die Lego-Gestaltung war. Einige Damen und Herren gehören zur Würfel-Fraktion: würfelförmiger Kopf auf würfelförmigen Körper auf je zwei gewürfelten Beinen. Ist das nicht schon verbotenes Glücksspiel? Mehr traue ich mich nicht zu denken. Da ich hier voraussichtlich nicht begraben werde, lasse ich den Friedhof links liegen und erklimme lieber die Straße »Am Brühl«, an deren Ende meine Pension zu finden ist, betrieben von der Lebenshilfe und malerisch am Park gelegen. WLAN ist nicht, dafür aber ein großes Zimmer mit Aussicht … und dem Wissen, eine gute Sache zu unterstützen.
Das Abendessen betreffend muss ich jetzt würfeln: Soll es, wie 2015, der »OZ’ler« sein, eine rustikale Kneipe mit ebensolcher Speisenauswahl, in der garantiert Fußball läuft (RB Leipzig spielt erstmalig in der Champions League) oder doch lieber, wie im letzten Jahr, zum Griechen (»Santorini«), bei dem ich in Ouzo eingelegt wurde. Der Würfel fällt zugunsten der kleinen Getränke, aber ich beschließe, auf dem Heimweg dem Fußball doch noch meine Aufwartung zu machen. Immerhin ist das Frühstück morgen erst um – hurra! – sieben Uhr. Das muss gefeiert werden. Jammas!
Donnerstag, 14. September 2017
Erstens kommt es bekanntlich anders, als man zweitens immer denkt. Nicht beim Griechen – hier gab es einen Ouzo zur Begrüßung und einen zum Abschied … aber im »OZ’ler« lief nicht das Leipzig-, sondern das Dortmund-Spiel. Ich durfte mit dem Katzenfernseher im hinteren Raum vorlieb nehmen, in dem wenigstens die Konferenzschaltung lief. Und schon entdeckte ich, dass das Gras auf der anderen Seite – wie uns das Sprichwort gerne glauben machen möchte – gar nicht grüner ist. Mit zunehmender Spieldauer konnte ich die einzelnen Rasenflächen und mit ihnen die einzelnen Partien nämlich kaum noch unterscheiden. Da kam mir ein weiblicher Gast, eher älter als ich, sehr gelegen. Sie stand mit ihrer gesamten Körpergröße von etwa 1,63 Meter vor mir und erzählte ungefragt, dass sie schon als Zwölfjährige zum ersten Mal in einem Fußballstadion gewesen war. Dabei hielt sie ihre Hand etwa 1,75 Meter über den Boden … und mir rutschte die Frage heraus, ob sie früher vielleicht größer gewesen sein möge. Zum Glück hatte sie Humor. Und zum Glück weiß ich das auch noch nach dem Aufwachen.
Morgenmagazin, Dusche, Frühstück. Es ist mittlerweile eine gewohnte Routine. Allerdings muss ich heute den Koffer bis zum Berufsschulzentrum ziehen. Es ist wohl eine Oschatzer Spezialität, alle Straßen zu pflastern, und zwar mit großen, quadratischen Steinen, die durch tiefe und breite Furchen getrennt sind. Es wäre sicher einfacher, den Rollkoffer durch tiefen Sand zu expedieren als über dieses Pflaster. Es soll »historisches Pflaster« sein, ich halte es eher für hysterisches Pflaster.
Dafür freue ich mich umso mehr, die Leiterin und die Lehrer des BSZ wiederzusehen. Irgendwie gehöre ich mittlerweile schon zum Inventar. Zwei Veranstaltungen mit jeweils um die 40 Schüler liegen vor mir, diesmal finden sie in der prachtvollen Aula statt. Prachtvoll vor allem wegen der Kronleuchter, die selbst Liberace die Tränen in die Augen getrieben hätten. Die Veranstaltungen laufen erfolgreich ab, die erste etwas ruhiger, die zweite etwas stimmungsvoller. Zum Dank gibt’s Kaffee und Plätzchen, bevor es in ein privates Bildungsinstitut gehen soll. Aber vorher noch Halt am »Grillstübl« neben dem Kaufmarkt. Die Bockwurst ist noch nicht heiß genug, dafür gibt’s Hamburger. Aber was für welche! Sie sind – ungelogen – mit Liebe gemacht und kosten nur € 2,50 das Stück. Grandios – eine echte Empfehlung. Also: Wanderer, kommst Du nach Oschatz … und so weiter.
Am folgenden Veranstaltungsort bin ich etwa eine Stunde zu früh, weil ich nicht weiß, wo ich mir im einsetzenden Regen die Zeit vertreiben soll. Was passiert? Die Veranstaltung wird kurzerhand um 30 Minuten vorverlegt. Das nenne ich Spontaneität. Der Fachbereichsleiter ermahnt die Anwesenden zu Aufmerksamkeit … der Ton erinnert fast an einen Kasernenhof. Aber er zeigt Wirkung. Nach neunzig Minuten ist der Pädagoge selbst völlig überrascht, wie aufmerksam die Schüler waren. Schöne Geste: Er sagt es ihnen auch. Hier sitzen etwa 35 angehende Heilerzieher, von denen zwei besonders wissensdurstig sind und mich zwingen, im Ablauf hin und her zu springen. Genau das finde ich aber klasse. Zum Dank werden aus neunzig Minuten 105.
Nun weiter nach Torgau. Die Pensionswirtin heißt hinten genauso wie eine liebe Freundin von mir, vorne weiß ich es nicht. Aber sie heißt mich in der »Stadt der Renaissance und der Reformation« willkommen. Ich kannte Torgau bislang namentlich nur durch jenen Tag im Jahre 1945, als sich die amerikanischen und die sowjetischen Truppen im Kampf gegen Hitler-Deutschland an der Elbe trafen (»Elbe Day«). Im Moment sind mir Renaissance und Reformation egal, die Elbe auch. Ich will erst einmal raus aus den Schuhen.
Aber lange hält es mich nicht auf den Socken. Ich mache mich auf, die Stadt zu erkunden, und bin sehr angetan. Tatsächlich hat Torgau so gut wie keine Kriegsschäden zu verzeichnen, und auch der Verfall nach dem Krieg ist beseitigt. Schloss Hartenfels, eine große, vierseitige Anlage, strahlt im historischen Glanze … und Luther ist allenthalben präsent. Es ist ja Luther-Jahr. Immerhin hat Dr. Martinus die Schlosskapelle mit der ersten Predigt eingeweiht, und seine Frau Katharina von Bora liegt in St. Marien begraben. Aber auch der jüngeren Geschichte ist wohl getan: Des bereits erwähnten ruhmreichen Handschlags US-amerikanischer und sowjetischer Truppen am 25. April 1945 wird standesgemäß mit einem Army-Shop gedacht.
Essenstechnisch habe ich mich auf die Empfehlung meiner Pensionswirtin verlassen und werde nicht enttäuscht. Das Restaurant »Nilot« im ehemaligen Ratskeller firmiert zwar als Steakhouse, gehört aber eher in die Abteilung Fleischveredlung. Es ist eine schiere Entdeckung – ein kulinarisches Kleinod auf dem nordsächsischen Lande. Wenn Essen wirklich der Sex des Alters ist, wie man öfter hört, habe ich gerade den besten Sex meines Lebens erlebt. Jetzt noch irgendwo einen Absacker zu trinken, wäre ein Sakrileg. Also trete ich den Rückweg in meine Pension an und bereite mich auf die letzten beiden von 14 Schulveranstaltungen vor. Ich darf sogar länger schlafen als in den vorherigen Nächten: Das Frühstück ist für Viertel nach sieben bestellt.
Freitag, 15. September 2017
Morgenmagazin und Dusche wie gehabt … aber das Frühstück wie bei Adels zuhause: Ein kleiner Pavillon im Garten beherbergt alles, was des Frühstückenden Wunsch sein könnte. In diese Pension werde ich gerne wiederkommen, aber jetzt muss ich sie verlassen. Zehn Minuten Fußweg inkl. Kofferziehens liegen vor mir, das Johann Walter-Gymnasium ruft. Mein Vater selig wäre stolz auf mich. Erstens war er wie der Namensgeber der Schule Kantor, und zweitens hat Walter die erste protestantische Kirchenmusik komponiert; seine Choräle hat mein Vater mit Sicherheit in den langen Jahren seiner Tätigkeit oft in die Tastatur georgelt.
Aber heute geht es um HIV. Zuerst eine neunte und zwei zehnte Klassen, danach je eine neunte und zehnte. Gymnasiasten sind eher ruhige Zuhörer. Dafür ist der Veranstaltungsort erhebend. Die Schule ist zum Teil in einem ehemaligen Kloster untergebracht, und der Saal mit seiner gotischen Decke liegt in diesem Teil. Wow. Trotzdem lasse ich mich nicht ablenken, die Schüler – und noch mehr die Lehrer – sind angetan von meinem Vortrag und spenden herzlichen Applaus. Ich soll im nächsten Jahr unbedingt wiederkommen. Mach‘ ich doch gerne.
Damit ist meine Reise durch Nordsachsen beendet. Ich bedanke mich herzlich bei Conny Dietze und Christiane Eiselt vom zuständigen Gesundheitsamt, die mich aufopferungsvoll durch die Schulveranstaltungen begleitet haben, und gebe ihnen ein hoffnungsfrohes »Bis nächstes Jahr« mit auf den Weg.
Jetzt heißt es, sich zu sputen. In zwanzig Minuten fährt mein Zug, der mich mit einmaligem Umsteigen bis Berlin-Lichtenberg bringen soll. Von dort aus soll es stante pede in den Prenzlauer Berg zur »Langen Nacht der Printmedien« gehen. Aber davor hat der liebe Gott noch ein Überraschungs-Ei versteckt: Da der nächtliche Sturm einen Baum auf die Oberleitung gepfeffert hat, gibt es zwischen Calau (Umsteigeort) und Lübbenau Schienenersatzverkehr mit der Option, erst eine Stunde später und damit zu spät in Berlin einzutreffen. Das geht gar nicht. Ich entscheide mich für das Risiko, erst in Cottbus umzusteigen und werde belohnt. Es gibt zwar kaum Platz im Regionalexpress in die Hauptstadt, aber wenigstens komme ich mit. Nun muss nur noch die Frage beantwortet werde, ob mein Ticket in diesem Zug überhaupt gilt. Es gilt.
Die Lange Nacht der Printmedien (Freitag, 15. September 2017 | 15:00 – 22:00 Uhr)
Vom Bahnhof Alexanderplatz aus nehme ich die U2 zum Ausgangspunkt des Events, eine Druckerei in der Nähe des Senerfelderplatz‘. Das klingt entspannter als es ist, denn vom Bahnhof zur U2 ist es ein endlos langer Weg, dessen Höhenunterschiede fast ausschließlich per Treppe überwunden werden müssen. Und das mit einem immer noch gefühlt fünfzig Kilo schweren Koffer im Schlepptau! Aber irgendwann ist auch dieser Weg erledigt, und genau so, nämlich erledigt, erreiche ich das Ziel. Ich habe gerade noch Zeit, mich umzuziehen.
120 Menschen aus Werbeagenturen, Druckereien und anderen Wirtschaftszweigen haben sich eingefunden, um an vier Stationen die Leistungsfähigkeit der Berliner Druckindustrie von der Vorstufe bis zur Weiterverarbeitung in Augenschein zu nehmen – und ich bin mittendrin. Immerhin bin ich so etwas wie ein Stargast: Das diesjährige Motto lautet »Das Buch – Vom Schreiben zum Lesen« und widmet sich der Buchherstellung. Hergestellt wird tatsächlich ein Buch, aber nicht irgendeins. »Frischfleisch war ich auch mal«, mein jüngstes Baby, das im Handel in einer klassischen Softcover-Ausgabe erhältlich ist, wird hier zu einem Juwel der Druckausstattung – zum Teil vor den Augen des geschätzten Publikums. Bereits in den Werbematerialien war das Buch ein zentraler Bestandteil.
In zwei Bussen werden die Teilnehmer zeitversetzt zu den verschiedenen Stationen chauffiert, wo jeweils etwa eine Stunde Aufenthalt vorgesehen ist. Manchmal leitet ein gedruckter roter Teppich die Gäste in die Produktionshalle, manchmal ist es der Lieferanteneingang, hinter dem aber bereits die Zapfanlage mit kühlem Bier wartet. Die teilnehmenden Betriebe haben sich nicht lumpen lassen; es gibt Führungen, es gibt Selbst- und Mitmachstationen, und es gibt ein hervorragendes Catering. Überall stehen Mitarbeiter bereit, Fragen zu beantworten, Abläufe zu erklären oder Maschinen vorzuführen. Selbst wer, wie ich, nicht ganz unbeschlagen ist, erfährt Neuigkeiten und lernt beständig hinzu. Es ist unglaublich, zu welchen Höchstleistungen das Druckgewerbe in der Lage ist. A la bonheur!
Die Fahrten sind so getaktet, dass ich in beiden Bussen kurze Lesungen aus dem Buch halten kann. Natürlich wirkt alles etwas provisorisch, die Mikrofonqualität ist auf Literatur nicht eingestellt, und auch die Straßenverhältnisse lassen keinen schwankungsfreien Vortrag zu. Aber alle Gäste inklusive der Busfahrer (und des Autors) haben ihren Spaß. Große Freude machen mir die Gäste der »Langen Nacht« aber nicht nur mit ihren positiven Kommentaren zu meinen Geschichten, sondern mit einem klaren Bekenntnis zum Buch.
Und das zahlt sich aus: Am Ende der »Langen Nacht« erhält jeder der anwesenden Teilnehmer ein Exemplar der Sonderedition von »Frischfleisch war ich auch mal«: eine Hardcover-Ausgabe mit partieller Glanzfolienkaschierung auf hochwertigem Papier, mit schwarz-rotem Kapitalbändchen und einem Leseband mit angehefteter Karte, die Namen und Foto des Empfängers zeigt. Das ganze in einem Schuber, der auch noch einem Booklet Platz bietet, in dem sich die teilnehmenden Unternehmen präsentieren. Aber das ist noch nicht alles: Nachdem die derart personalisierten Bücher ausgegeben sind, bildet sich eine lange Schlange … und der Autor darf 120 Bücher signieren, frei nach dem Motto: »Lange Nacht ade, Sehnenscheide tut weh«. Aber auch das ist irgendwann geschafft. Das wohlverdiente Feierabendbier ruft und langsam klingt der Abend aus.
Alles in allem: eine tolle Veranstaltung. Mein Dank gilt nicht nur den Besuchern und Gästen, sondern insbesondere den Organisatoren und teilnehmenden Betrieben. Sie alle haben eine Höchstleistung vollbracht, um anhand meines Buches ihre hohe Professionalität zu dokumentieren. Ich bin gerührt, beeindruckt und sprachlos. Als ich das erste fertig gebundene Exemplar in Händen halte, kommen mir ein paar Tränchen. Für mich ist diese Sonderausgabe ein Ritterschlag – und natürlich ein tolles Marketing.
Ich danke dem FDI Berlin und seinem 1. Vorsitzenden Bodo Krusenbaum als Schirmherrn, Michael Fuchs als Zeremonienmeister, den Firmen Elch Graphics, Druckhaus Berlin-Mitte, Pawellek sowie Reinhart & Wasser, die den Besuchern ihre Türen öffneten; ich danke Heidelberg Druckmaschinen und Epple Druckfarben, die die Veranstaltung unterstützt haben, ich danke Papyrus, die darüber hinaus noch das Papier zur Verfügung stellten und dem HandBuch Druck.Medien sowie last not least Ingolf Ludmann-Schneider, dessen Verlag Pax et Bonum initiierte, dass mein Buch für die »Lange Nacht der Medien« ausgewählt wurde.
Am dankbarsten war ich aber, dass ich am Samstag um zwei Uhr früh – nach mehr als 130 Stunden Abwesenheit – endlich wieder in mein eigenes Bett sinken durfte. Denn: Auch Frischfleisch möchte gelegentlich abhängen …
In diesem Sinne: Wir lesen uns!